Geschichte der Typografie

Warum die Fraktur-Schriften nicht mehr »gelesen« werden

Beispiel de Buchsatzes in der Fraktur

Die Leseschriften (von oben nach unten): Fraktur/gebrochene Schrift (ehemalige Leseschrift) | Antiqua (Serifenschrift) | Grotesk (serifenlose Schrift)

Die gegenwärtige Landschaft der Typografie ist durch eine schier unendliche und ansteigende Anzahl an Schriftarten gekennzeichnet. Aufgrund des computerbasierten Schriftsatzes und der digitalisierten Schriftgestaltung ist eine Entschleunigung dieses Prozesses nicht absehbar. Es scheint daher um so bemerkenswerter, dass im Vergleich zur zunehmenden Menge an einzelnen Fonts, die übergeordneten Leseschriften (Antiqua/Serifenschriften, Grotesk/serifenlose Schriften) im Laufe des 20. Jahrhunderts um die ehemals essenzielle Klasse der Fraktur-Schriften ärmer geworden sind.

Allgemein hin wird angenommen, dass die Fraktur-Schriften durch den Missbrauch der Nationalsozialisten bis heute als Nazi-Schriften gelten. Doch trifft das eigentlich zu? Richtig ist, dass die Gründe für ihr weitgehendes Verschwinden vor allem in der Zeitgeschichte zu verorten sind.

Inhaltsverzeichnis

  • Historie der Fraktur
  • Lesbarkeit & Ästhetik der Fraktur
  • Kollektives Schriftbewusstsein
  • Zusammenfassung: Die Fraktur als Abbild kultureller Umwälzungen

1. Historie der Fraktur

Das folgende Kapitel zur Historie der Fraktur ist hauptsächlich unter der Zuhilfenahme des einmaligen Fachbuchs »Fraktur – Form und Geschichte der gebrochenen Schriften« von Albert Kapr verfasst worden. Eine Auflistung aller Quellen des finden Sie übrigens am Ende des Blog-Artikels.

Die Frakturschriften – typografisch korrekt bezeichnet man sie eigentlich als »gebrochene Schriften« – sind nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem Kanon der gängigen Satzschriften getilgt worden. Dabei zeichnet sich die Fraktur durch eine besonders schicksalhafte Historie aus, die auch ein Spiegelbild der kulturellen und gesellschaftlichen Umwälzungen der Vergangenheit ist.

Nachdem Johannes Gutenberg 1450 den Buchdruck erfunden und damit die Buch- und Druckkunst revolutioniert hatte, war eine ästhetische Zäsur in der Schriftgestaltung notwendig, um den formalen Ansprüchen der neuen Reproduktionstechnologie gerecht zu werden. Die Möglichkeit der rasanten und flächendeckenden Publikation von Informationen war zugleich ein Katalysator des Konflikts zwischen den Anhängern der Reformation und denen der katholischen Kirche. Es entwickelte sich ein Konfessionsstreit, der sich zu einem Wettstreit über die Hoheit der Schriftgattung wandelte. Deutschsprachige Texte wurden vornehmlich in der Fraktur gedruckt, die als nationales Kulturgut in der Bevölkerung hohes Ansehen genoss. Die katholischen Fürsten hingegen ließen die lateinischen Texte traditionell in der noch heute gebräuchlichen Antiqua setzen. Mit der Hinwendung der Humanisten zu einer europäischen Bildungsgemeinschaft wurde in wissenschaftlichen Kreisen zunehmend die Antiqua präferiert. Aus der anfangs im konfessionellen Bereich angesiedelten Konkurrenz zwischen der Antiqua und der Fraktur, entwickelte sich ein ideologischer Schriftstreit, der über mehrere Jahrhunderte andauern sollte. Die Ideale der Französischen Revolution, die Intellektuelle und Wissenschaftler Abstand von der Fraktur nehmen ließen, verloren mit der Besetzung deutscher Gebiete durch Napoleon schnell an Zuspruch. Das Volk sah in der Fraktur mehr denn je ein nationales Kulturgut, das es zu bewahren galt.

Obwohl die gebrochene Schrift in deutschen Gebieten zunächst als Amtsschrift eingeführt wurde, nahm ihre Bedeutung im Zuge von internationalen, wirtschaftlichen sowie kulturellen Verflechtungen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts stetig ab. Traditionsbewusstsein, ästhetischer Anspruch und Wahrung der nationalen Identität standen den Ansprüchen einer internationalen Ausrichtung sowie einer effektiveren Lesbarkeit gegenüber. So hatte die Fraktur in den Dreißiger Jahren ihre europaweite Relevanz weitgehend eingebüßt.

Beispiel de Buchsatzes in der Fraktur

Auszug aus der Bibel von Johannes Gutenberg (Mainz um 1455)

Beispiel einer gebrochenen Fraktur-Schrift

Diploma: eine typische Fraktur-Schrift

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich der gesellschaftliche Status der Fraktur-Schriften schlagartig. Die Nazis feierten die vermeintlich rein deutschen Wurzeln der Fraktur und führten sie wieder als Amtsschrift ein. Die Ursprünge sind historisch gesehen übrigens jedoch nicht so eindeutig. Viele Fraktur-Schriften wurden im deutschsprachigen Raum kreiert, jedoch reichen die Ursprünge dieser Schriftgattung u.a. bis nach Frankreich.

Das hohe Ansehen, das Fraktur-Schriften im Nazi-Regime genossen, war nicht von langer Dauer. Als eine angeblich von Juden erschaffene Schrift wurde die Fraktur überraschend verboten. Der Grund der absurden Kehrtwende war ein anderer als der vorgeschobene. In den international besetzten Gebieten war eine Schriftkommunikation mit den Fraktur-Schriften schlichtweg nicht möglich, da diese Schriften dort nicht mehr gelehrt wurden und daher als unverständlich galten. Das internationale Machtstreben Hitlers war wichtiger, als das Festhalten an einer ideologisch überhöhten Schrifttradition. Dieses Vorgehen entsprach dem nationalsozialistischen, menschenverachtenden Kalkül, in dem historisch absurde Verzerrungen noch eines der geringfügigen Übel gewesen sind.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war das Schicksal der Fraktur-Schriften dann endgültig besiegelt. Obwohl sie nach dem Mauerbau in Ostdeutschland ein historisch unbefangenes Nischen-Dasein fristeten, ist eine offizielle Rehabilitierung der Fraktur ausgeblieben. Aktuell findet die Fraktur vor allem in der dekorativen Schriftgestaltung und der traditionellen Logo-Ästhetik Anklang.

Logos in der Fraktur-Schrift

Fraktur-Schriften im modernen Zeitungslayout: Schriftlogos für die New York Times und die Frankfurter Allgemeine

2. Lesbarkeit & Ästhetik der Fraktur

Die Historie der Fraktur hat unübersehbar zu ihrem Niedergang beigetragen. Doch inwiefern hat die formale Anmutung bzw. die Ästhetik der Fraktur dazu beigetragen, ihren Status als Leseschrift zu verlieren?

Ihre augenscheinliche Herkunft vom Schreiben (sie wirkt wie mit einer Breitfeder geschrieben) entspricht nicht mehr den Ansprüchen an eine moderne Leseschrift, die sich von geschriebener Schrift eindeutig zu unterscheiden und möglichst neutral zu erscheinen hat. Der Formenduktus der Fraktur und die ihr damit verliehene persönliche Ausdruckskraft dürfte mithin einer der Gründe sein, weshalb sie als altertümlich und nicht mehr zeitgemäß wahrgenommen wird. Überdies ist zu vermuten, dass die vermeintlich bessere Lesbarkeit der Antiqua-Schriften die Profilierung gegenüber der Fraktur beschleunigt haben könnte. Die Lesbarkeitsforschung kann dazu keine hinreichend objektiven Aussagen treffen. Zwar lässt sich inzwischen feststellen, dass die Antiqua kognitiv schneller erfassbar ist. Jedoch ist dieser Effekt vielmehr auf die sich veränderten Lesegewohnheiten zurückzuführen. Wie gut eine Schrift lesbar ist, ist davon abhängig, wie sehr eine Schrift innerhalb eines Kulturkreises gebräuchlich geworden ist. Die Fraktur ist schon seit geraumer Zeit keine Standardschrift mehr. Eine objektive Vergleichbarkeit ist daher nicht gegeben. Nichtsdestotrotz muss der Antiqua eine bessere Lesbarkeit konstatiert werden, da sie mit all ihren Auszeichnungsmöglichkeiten weitaus mehr typografische Kriterien einer modernen Satzschrift erfüllt.

Mit dem Verlust ihres Status als Satzschrift hat die Fraktur an ästhetischer Qualität verloren, da ihre aisthetische Funktion, im Sinne der Verbesserung des Erkenntnisvermögens (als Leseschrift), abgenommen hat. Die kunstbezogenen Eigenschaften können den gebrochenen Schriften weiterhin zugeschrieben werden, da sie als dekorative Schriften (zum Beispiel bei Logodesigns) Verwendung finden. Ob sie hingegen als schön gelten, ist subjektabhängig. Denn abseits der ästhetisch formalen Kriterien nimmt die Filterung in der individuellen Wahrnehmung einen entscheidenden Anteil an der Schriftbeurteilung. Es ist immer das Individuum, das durch sein subjektiv gefärbtes Empfinden, sein Schriftbewusstsein und seine psychologische Konstitution die Wirkung einer Schrift kognitiv und emotional filtert. Auch wenn die ästhetischen Formen der Fraktur bei vielen Menschen ähnliche Gefühle hervorrufen: die Wahrnehmung ist immer individuell an die Erfahrungen, das Schriftwissen, die Erinnerungen, die Erwartungen, die Interessen, den Grad der Aufmerksamkeit, den Interpretationsrahmen, das subjektiv-ästhetische Empfinden, die psychische Verfassung und die persönlichen Vorlieben der Betrachter gebunden.

3. Kollektives Schriftbewusstsein

Neben der Subjektivität in der Wahrnehmung bestimmen national-kulturelle Prägungen die kollektiv-emotionalen Wahrnehmungen und Beurteilungen der gebrochenen Schriften. Zum Beispiel unterscheidet sich das kollektive Schriftbewusstsein von Amerika (dort gilt die Fraktur als historisch unbelastete Schrift) von dem in Deutschland und den angrenzenden europäischen Ländern, wo sie oft als historisch vorbelastet wahrgenommen wird.

Gemeinsam ist ihnen allen, dass sich die Fraktur dazu eignet, traditionelle Gefühle hervorzurufen. Wie die Fraktur beurteilt wird, wird in letzter Instanz vom vermittelten Inhalt und den Motivationen der Herausgeber forciert. Es ist ein gravierender Unterschied, ob mithilfe der Fraktur Neonazi-Gruppierungen rechte Parolen, traditionsbewusste Zeitungen Informationen oder Dichter lyrische Verse publizieren wollen. Dabei nimmt auch das Ausmaß des Stilwillens des Gestalters darauf Einfluss, wie betont die Bezüge zwischen Inhalt und Form ausfallen.

4. Zusammenfassung: Die Fraktur als Abbild kultureller Umwälzungen

Wie am Beispiel der Fraktur deutlich geworden ist, kann Schrift eine ästhetische Reflexionsfläche für gesellschaftliche, kulturell-soziologische, ideologische und konfessionelle Veränderungen darstellen. Schriftästhetik und Weltanschauung stehen in unmittelbarer Kohärenz zueinander. Typografie kann als ein partielles Abbild kultureller Umwälzungen gesehen werden. Die vielseitige Historie der Fraktur hat sich zwangsläufig in ihren Konnotationen manifestiert. In der Folge haben sich vielfältige Wahrnehmungen im kollektiven Schriftgedächtnis entwickelt, die von jahrhundetlanger Tradition, Deutschtümelei, ewiggestrigem, traditionsreichem Kulturgut bis hin zur nationalsozialistischen Behaftung reichen.

Historisch betrachtet ist die Fraktur keine Nazischrift. Ihr Missbrauch, die mangelnde Aufklärung sowie der gegenwärtige Gebrauch im Neonazi-Milieu haben das kollektive Schriftgedächtnis in Deutschland dennoch so tiefgreifend geprägt, dass der nationalsozialistische Kontext fest in ihrer Rezeption verankert ist. Der ideologische Missbrauch durch die Nazis hat den Niedergang der Fraktur beschleunigt, der jedoch aufgrund einer fortschreitenden Globalisierung, der europäischen Einigung und der damit verbundenen Notwendigkeit einer einheitlichen Schriftkommunikation ohnehin stattgefunden hätte.

Globalisierende Entwicklungen in den Lesestandards haben zwangsläufig eine Reduktion der Satzschriften mit sich gebracht. Als ehemalige Leseschrift ist mit der Fraktur eine Kulturtechnik verloren gegangen. Ob man die Verdrängung der gebrochenen Schriften hingegen mit einem tendenziellen Verfall der Schrift- und Lesekultur gleichsetzen will, ist nicht zweifelsfrei zu beantworten. Einerseits hat die Schriftkultur an ästhetischer Vielfalt verloren, andererseits ist eine global etablierte Schriftkommunikation ein Gewinn für den Austausch in einer weltweit sich vernetzenden Lesekultur, über die der geistige Zugang zu fremden Kulturkreisen vereinfacht wird. Schriftkultur bleibt ein sich stets wandelnder Prozess. Es bleibt abzuwarten, welche Entwicklungen die Zukunft nehmen wird.

Beispiel einer gebrochenen Schrift-Typo in Warschau

Aktuelles Beispiel: Das Schild eines Antiquariats in der Altstadt von Warschau 2022

Dennoch wäre es für den Erhalt einer kulturell-ästhetischen Vielfalt wünschenswert, wenn den gebrochenen Schriften auch langfristig ein dauerhafter typografischer Nischenplatz eingeräumt bleibt. Zweifelsohne stellt die Fraktur eine ästhetische Ergänzung und Bereicherung in der typografischen Gestaltung dar. Dazu ist es unabdingbar, sie mithilfe einer längst überfälligen geschichtlichen Aufklärung von ihrer nationalsozialistischen Behaftung zu befreien. Nur auf diesem Weg kann eine offene, moderne Schriftkultur Bestand haben.

Philip Esch | 20. April 2023

Verwendete Literatur

De Jong, Stephanie / de Jong, Ralf (2008): Schriftwechsel. Schrift sehen, verstehen, wählen und vermitteln. Mainz: Herrmann Schmidt Verlag.

Eco, Umberto (1989): Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen. Leipzig: Reclam.

Flusser, Vilém (1992): Die Schrift. Frankfurt am Main: Fischer.

Forssmann, Friedrich (1993): Der Satz gebrochener Schriften. In: Kapr, Albert (1993): Fraktur. Form und Geschichte der gebrochenen Schriften. Mainz: Hermann Schmidt, S. 112–115.

Gutschi, Christian (1996): Psychologie der Schriften. In: Page. Hamburg, 8/1996, S. 54–56.

Kapr, Albert (1993): Fraktur. Form und Geschichte der gebrochenen Schriften. Mainz: Hermann Schmidt.

Welsch, Wolfgang (1996): Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart: Reclam.

Willberg, Hans Peter (2008): Wegweiser Schrift: Erste Hilfe für den Umgang mit Schriften. Was passt – was wirkt – was stört. Mainz: Hermann Schmidt Verlag; 3. Auflage.

Willberg, Hans Peter / Forssman, Friedrich (2005): Lesetypografie. Mainz: Hermann Schmidt Verlag.

Willberg, Hans Peter (1993): Vom falschen Image der Fraktur. In: Kapr, Albert (1993): Fraktur. Form und Geschichte der gebrochenen Schriften. Mainz: Hermann Schmidt, S. 101–104.

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